15.09.2015Die WeLT, Panorama


Auf der Flucht vor der Schulpflicht


die_wildnisfamilie © Fotos Jakob Hoff

Sie sollen weder in der Schule noch zu Hause büffeln, sondern frei lernen: Die Fukses schicken ihre sieben Kinder nicht zum Unterricht. Für ihre Überzeugung haben sie sogar Deutschland verlassen.

„Mein Job ist es zu schwimmen,“ sagt Hannes und lacht dabei durch seine Zahnlücke. Heute hat der Sechsjährige hart gearbeitet: Er war den ganzen Tag im Wasser. Seine Familie steht seit einer Woche mit dem Wohnmobil an einem See in Mecklenburg. Die neun haben nicht etwa Ferien: Hannes' Eltern sind Aussteiger, Hannes und seine sechs Geschwister so genannte Freilerner: Sie gehen weder in die Schule noch werden sie zuhause unterrichtet, sondern lernen eigenverantwortlich und selbstbestimmt, wonach ihnen gerade ist: von Gartenarbeit und Nähen über Programmieren und Gebärdensprache bis hin zu Zaubern.

Fließend Englisch und etwas Portugiesisch haben die Kinder spielend gelernt. Die Wildnisfamilie, wie sich die neunköpfige Regenbogen-Patchworkfamilie aus Line und Antje Fuks und ihren sieben Kindern selbst nennt, kommt viel herum: Ein paar Monate des Jahres leben die zwei Frauen mit sechs ihrer Kinder in Portugal auf einem abgelegenen Stück Land in einer Jurte, ein paar Wochen besuchen sie den Ältesten bei seinem Vater in dessen Haus in Frankfurt, den Rest des Jahres sind sie im Wohnmobil unterwegs durch Europa.

Line und Antje Fuks heißen eigentlich anders: Aus Angst vor dem deutschen Gesetz will das Paar nicht beim Klarnamen genannt und auch nicht erkennbar gezeigt werden. Die beiden Frauen betrachten sich als Deutschlandflüchtlinge: Sie sind ausgewandert, um ihre Kinder nicht in die Schule schicken zu müssen. Allein wegen ihrer außergewöhnlichen Patchwork-Familien-Konstellation aus zwei Frauen mit jeweils drei und vier eigenen Kindern - die älteren aus früheren Beziehungen zu Männern, die sechs Wochen auseinander geborenen Jüngsten vom selben Samenspender - sind die Fukses keine gewöhnliche Familie.

Mit dem Unschooling ihrer Kinder aber stehen sie nicht alleine: Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit zwischen 500 und 3000 Schüler in Deutschland zuhause lernen. Eine genaue Zahl lässt sich nicht ermitteln. Homeschooling erfüllt in Deutschland einen Straftatbestand: In allen 16 Bundesländern herrscht Schulpflicht. Im Nachbarland Österreich, wo Homeschooling erlaubt ist, werden zur Zeit 2.226 Kinder zu Hause unterrichtet.

Die meisten deutschen Freilerner umgehen das Gesetz. Nur wenige kämpfen offiziell um eine Befreiung von der Schulpflicht, wie die Eltern von Deutschlands bekanntestem Schulverweigerer Moritz Neubronner: Das Akademikerehepaar Neubronner ging jahrelang durch alle Instanzen, um eine Homeschooling-Erlaubnis für Moritz und seinen Bruder zu erhalten. Moritz konnte sich in der Schule nicht konzentrieren - er bekam Bauchschmerzen von dem Lärm.

2008 verloren die Neubronners in letzter Instanz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Vater zog mit seinen Söhnen nach Frankreich: Im Nachbarland herrscht Bildungspflicht anstelle von Schulpflicht. Gerade hat Moritz Neubronner nach insgesamt zweieinhalb Jahren Schulzeit sein Abitur mit der Note 2, 5 gemacht - auf die externe Abiturprüfung hat er sich selbstständig vorbereitet.

Im Gegensatz zum Fall Moritz Neubronner ging das Unschooling der Fuks-Kinder von den Eltern aus. Schon bei der Suche nach einem Kindergarten wurde Line Fuks und ihrem damaligen Mann Alexander P. mulmig: „Es gab keinen, bei dem man das Gefühl hatte, da wird ausreichend auf die Eigenheiten des einzelnen Kindes eingegangen oder Naturbezug vermittelt“, erzählt Line Fuks. Die Eheleute gründeten kurzerhand selbst einen: einen Waldkindergarten.
weit weg laufend
Als ihr Sohn fünf wurde, schien es dem Paar nur konsequent, auch eine freie Schule zu gründen. Der Impuls dazu kam durch den Kommentar einer Nachbarin: „Die hat gesagt, dass wir uns noch wundern werden, wenn Lukas in die Schule kommt. Dass da ein anderer Ton herrscht und es schwer werden wird für ihn, weil wir ja nicht einmal einen Fernseher haben,“ erzählt Line Fuks. Über die freie Schule lernten sich Line und Antje Fuks kennen: „Antje saß bei einem Infoabend in der letzten Reihe und hat unangenehme Fragen gestellt.“

Antjes bohrende Nachfragen imponierten Line. Und auch Line überzeugte Antje: Antje wurde Teil des Vorstandes, die beiden Frauen erst Mitarbeiterinnen, dann Nachbarinnen, später beste Freundinnen und Liebende. Antje hatte sich bereits zuvor von ihrem Mann getrennt, Line trennte sich dann für Antje. Lines Sohn Lukas ging gerade einmal ein Jahr in die neu gegründete Schule, als die beiden Frauen, die zu dem Zeitpunkt drei und zwei Kinder hatten, beschlossen, gemeinsam neu anzufangen.

Antje kündigte ihre feste Arbeitsstelle als Kinderkrankenschwester und lebte zunächst von Arbeitslosengeld und Ersparnissen, Line war durch Alexander abgesichert. Die beiden Frauen zogen für ein halbes Jahr in Alexanders und Lines Wohnmobil, dann fanden sie in Brandenburg ein Haus am See und eine freie Schule und zogen um. Eine Weile schien alles perfekt: Die Frauen übernahmen einen Bioladen und träumten von einem Leben als Selbstversorger.

Bald wurden sie vom Alltag eingeholt: Bioladen und Haus verschlangen mehr Zeit als gedacht. „Das Schlimmste aber war, dass alle Aktivitäten sich immer dem Stundenplan der Kinder unterordnen mussten. Dadurch wurde alle Kreativität im Keim erstickt.“ Und nicht nur das: „Die Kinder waren so damit beschäftigt, ihre schulischen Schwächen zu kompensieren, dass keine Zeit mehr für ihre Stärken blieb.“ In ihren guten Fächern, erzählt Line Fuks, seien die Kinder unterfordert gewesen, in ihren schlechten überfordert. Das Lernen habe ihnen keinen Spaß mehr gemacht: „Man konnte ihnen richtig beim Unglücklichwerden zusehen.“

Als die Kinder der Schule wegen einer Flohplage eine Woche fernbleiben und zuhause lernen mussten, merkten die Fuks-Frauen, dass es das war, was sie wollten: ein Familienleben, das über abendliches Zusammensitzen und Wochenenden hinausgeht. Die beiden wollten Anteil nehmen an dem, was ihre Kinder bewegt, sie beim Lernen begleiten. Line und Antje Fuks beschlossen, die Bildung der Kinder selbst in die Hand zu nehmen.

Die Frauen setzten sich mit dem Schulleiter zusammen und wandten sich mit der Bitte um Homeschooling-Erlaubnis an die Schulbehörde des Landes Brandenburg. Mit der Drohung andernfalls auszuwandern, erreichten sie eine Bildungsvereinbarung. Die Kinder - der zehnjährige Lukas war in der 5. Klasse, die beiden achtjährigen Mädchen Alina und Maditha in der 3. - bekamen eine einjährige Schulbefreiung mit der Auflage, zehn Tage im Monat am Unterricht teilzunehmen und in der Zwischenzeit einem vorgegebenen Lehrplan zu folgen.

weit weg laufend Bald merkten die Fukses, dass ihr Heimunterricht in vielem dem glich, was sie zuvor an der Schule kritisiert hatten: „Wir haben aus dem Gefühl, etwas beweisen zu müssen genauso Druck ausgeübt, was das Pensum angeht, wie davor die Lehrer “, erzählt Line Fuks. Die Frauen beschlossen, den Lehrplan liegen und die Kinder selber bestimmen zu lassen, was sie lernen wollten. „Wir vertrauen in den Lernwillen unserer Kinder und setzen auf praxisorientiertes Lernen. Mit Zwang Erlerntes bleibt doch eh nicht hängen,“ sagt Antje Fuks. Die Fuks-Frauen beschlossen, keine weitere Vereinbarung für das neue Schuljahr zu treffen, sondern gleich den letzten Schritt zu gehen: Raus aus Deutschland, weg von der Schulpflicht.

Wie restriktiv die Einhaltung der Schulpflicht geahndet wird, variiert von Bundesland zu Bundesland. Der Fall der Familie Wunderlich in Hessen zeigt, was Homeschooling-Eltern im schlimmsten Fall blüht: Da sie sich weigerten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, entzog ihnen das Jugendamt nach jahrelangem Rechtsstreit Teile des Sorgerechts. Darunter das Aufenthaltsbestimmungsrecht: Mit ihren Kindern nach Frankreich auszuwandern, wurde den Wunderlichs untersagt.

Da sie vor Gericht dennoch nicht klein beigeben wollten, nahm das Jugendamt sie ihnen 2013 kurzerhand weg: Drei Wochen lang wurden die vier in einem Heim untergebracht, bis die Eltern einlenkten und versprachen, sie fortan in eine Schule zu schicken. Da sie ihrem Versprechen nicht nachkamen, wurden die Wunderlichs im April dieses Jahres zu 90 Tagessätzen von fünf Euro verurteilt.

Zu einem Rechtsstreit wollten die Fukses es gar nicht erst kommen lassen. Die Frauen fanden ein abgelegenes Grundstück mit einem Steinhaus und einer Jurte in Portugal und verkauften ihr kreditfinanziertes Grundstück am See gewinnbringend. Um der Schulpflicht zu entgehen ohne das Kindergeld zu verlieren, blieben die Fukses in Deutschland gemeldet. Als Hauptwohnsitz gaben sie Portugal an. Offiziell registriert sind sie dort nicht: In dem Teil des Landes, in dem sich ihr Anwesen befindet, herrscht Bildungspflicht.

Im Gegensatz zur Mehrzahl der Unschooling-Eltern sind die Fukses weder Akademiker noch religiös motiviert. Die gelernten Kinderkrankenschwestern sind überzeugte Individualisten: Ihre Jüngsten haben sie ohne fremde Hilfe zuhause in Anwesenheit der anderen Kinder als so genannte Lotusgeburten zur Welt gebracht, windelfrei erzogen und nach Bedarf gestillt, so lange die beiden das wollten.

Die Frauen sind stolz darauf, von wenig zu leben: Das Kindergeld reicht ihnen als Grundsicherung. Was sie darüber hinaus benötigen, verdienen sie mit Kunsthandwerk und Online-Beratung zu alternativen Lebensweisen. Dass sie sich nicht ganz außerhalb des Systems zu bewegen schaffen, wissen sie. Dennoch sind die Fuks-Frauen stolz darauf, sich und die Kinder aus dem „ Hamsterrad aus Arbeiten, Schlafen und Konsumieren weitestgehend befreit“ zu haben.

weit weg laufend Die beiden sehen sich als Konsumverweigerer. Kurz nach ihrem Umzug nach Portugal zogen die zwei Frauen mit ihren sieben Kindern im Rahmen eines Survival-Trainings mit zweiunddreißig anderen in die Wildnis der Vereinigten Staaten, um dort als Selbstversorger-Clan in der Natur zu leben: ohne Haus, Herd und Handy, mit Kojoten als Nachbarn.

Nach einem halben Jahr Aussteigerleben in den USA wollte der damals 16-jährige Lukas bei seinem Vater in Frankfurt bleiben. Der hatte eine Bedingung: Lukas sollte wieder eine Schule besuchen. So sehr Alexander P. die Freilern-Überzeugungen seiner Exfrau teilte: Mit Homeschooling gegen das Gesetz zu verstoßen, ging dem Raiffaisenbank-Angestellten zu weit. Lukas bestand Tests und Probezeit eines privaten Gymnasiums ohne Anstrengungen: Nach fünf Grundschuljahren wechselte er in die 10. Klasse.

Durch das reguläre soziale Umfeld außerhalb der Familie hat Lukas eine ganz andere Außensicht bekommen. Manchmal sagt er seitdem Dinge wie: „Euer Lebensstil ist nicht normal.“ Doch Lukas meint normal im Sinne von: der Norm entsprechend. Er hat keine Probleme mit dem Lebensentwurf der beiden Frauen: „Ich lebe selber irgendwo zwischen den Welten. Ich bin gerne mit den anderen auf Reisen, aber genauso gerne in Frankfurt und am Computer.“

Vor drei Monaten wurde es Lukas in Frankfurt „zu dumm in der Schule.“ Nach nur zwei Schuljahren verließ der 18-Jährige, der als Kind Weltretter oder Apple-Chef werden wollte, das Gymnasium wieder – ohne Abschluss. So ziemlich alles an der Schule habe ihn gestört, erzählt er. Unter anderem, dass seine Lehrer auf Hausaufgaben bestanden, obwohl er in Fächern wie Englisch auch ohne Hausaufgaben gute Noten schrieb. Vater Alexander P. zuckt mit den Achseln. Er findet den Schulabbruch nicht so schlimm. Schulpflichtig ist Lukas ja nicht mehr. Sorgen macht er sich weder um ihn, noch um die anderen. Er glaubt an die Fähigkeiten der Kinder.

weit weg laufend Klaudia Schultheis, Professorin für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstatt, sieht Homeschooling kritisch: „Die Schule“, so die erklärte Schulpflicht-Befürworterin, „vermittelt nicht nur Wissen, sondern unterstützt auch die Entwicklung von sozialen und kulturellen Kompetenzen. Kinder mit Migrationshintergrund, mit unterschiedlichem sozialen Background, mit Hochbegabung oder ,special needs` treffen in einer Schulklasse aufeinander. Sie lernen miteinander und voneinander.“

Homeschooling hingegen, so befürchtet die Professorin, könne zur Bildung von Parallelgesellschaften führen: „Wenn Eltern sehr alternativ eingestellt sind und ihr Kind nur in diesem Umfeld aufwächst, kann ihm die Integration in eine pluralistische Gesellschaft schwerfallen.“

„Die meisten Jugendlichen, denen wir begegnen, können wenig mit unserem Lebensstil anfangen,“ erzählt Lukas`, Schwester Alina. „Die ekeln sich schon wenn man sagt, dass man keinen Strom und kein Wasser hat. Dabei heißt das ja nicht, dass wir nicht duschen. Wir schwimmen schließlich im See und waschen uns da auch.“ Die 16-Jährige findet selbst eher befremdlich, was sie von anderen Jugendlichen mitbekommt: „Ich kann nicht verstehen, wie man sich den ganzen Tag über Nagellack und Popstars unterhalten kann.“ Maditha nickt zustimmend: „Zum Glück haben wir einander.“ Die anderen Kinder stimmen ihr zu. Nur die 13-jährige Emma sagt, sie hätte manchmal schon gerne auch andere Gleichaltrige um sich herum.

Über das, was sie sich selbst beigebracht haben, reden alle sieben mit Begeisterung. Alina zeigt zwei ihrer Zaubertricks, die 13-jährige Emma verweist auf das Internet, wo man ihre selbst designten Kleider sehen kann: „Das Nähen habe ich durch Online Tutorials gelernt.“ Alle Kinder lernen viel online. „Google als Lehrer,“ lacht Line Fuks. Die 16-jährige Maditha schüttelt den Kopf: „Wir haben auch viel Klassisches wie Biologie gelernt: Wir waren bei Geburten dabei und kennen die Pflanzen.“

Die Verwirklichung ihrer Berufswünsche sollte den Kindern auch ohne Chlorophyll-Wissen und Schulzeugnisse möglich sein: Alina möchte Schauspielerin oder Illusionistin werden, Maditha im Tierschutz arbeiten und Lukas ist mittlerweile von seinen Kinderträumen abgekommen und will Programmieren. Dass er das bereits höchst professionell beherrscht, sieht man am Blog seiner Mutter: Das gesamte Webdesign ist sein Werk. Nur Hannes hat einen klassischen Berufswunsch. Auf die Frage, was er mal werden wolle, sagt er: „Polizist. Da muss man nicht viel können.“ Auf den Einwand hin, dass man dafür aber die Gesetze kennen müsse, sagt er zögerlich: „Mh. Ob ich die lesen will, das weiß ich noch nicht.“

Die Reportage wurde in stark gekürzter Version publiziert.